Tag 90 - 2290 Bäume

Gleich auf den ersten paar hundert Metern finde ich einen Rastunterstand, wo ich meinen Pilgerführer zurücklasse, denn der reicht ja nur bis Vézelay. Hoffentlich findet ihn jemand, der ihn brauchen kann. Hier kommen ja genug Leute vorbei, die in die andere Richtung wandern. 

Mit dem Pilgern ist es jetzt so ein bisschen vorbei. Je weiter man sich von Santiago entfernt, desto weniger ist "der Pilger" eine bekannte Kategorie. In Spanien ist es ungeheuer wichtig, ob du Pilger oder einfach "nur" Wanderer bist. Man muss bloß mit dem Pilgerausweis wedeln und schon bekommt man alles, was man braucht. Wer keinen Pilgerausweis hat, hat echt schlechte Karten. In Frankreich nimmt die Infrastruktur für Pilger von Süd nach Nord rapide ab. Ich glaube, ich kann jetzt wieder einfach nur Wanderer sein. Für mich persönlich ist Wandern und Pilgern sowieso ein und dasselbe, doch im streng katholischen Sinne bin ich natürlich kein Pilger, und deshalb fühle ich mich in dieser Rolle auch nur begrenzt wohl. 

Noch ein Blick zurück auf Vézelay im Morgengrauen. Dann geht's ab übern Berg, der Hügel mit der Basilika gerät außer Sicht und neuer Boden kommt mir unter die Füße.

Es ist wunderschön, auf diese Weise die Welt zu erkunden. Ich fühle mich frei dabei, es ist, als gäbe es keine Grenzen, als stünde mir alles offen. Ich muss bloß einen Fuß vor den anderen setzen, bis ich dort bin. Es fühlt sich für mich oft an, als könnte ich fliegen. Und das, obwohl ich so langsam bin. Oder vielleicht weil... 

Der Boden, der mir heute unter die Füße kommt, gehört zur Landschaft Burgund und ist vor allem eins: hügelig. Vézelay war also nur der erste Hügel. Jetzt geht's erst richtig los. Und das schlaucht ganz schön. Richtige Berge sind was anderes. Da sieht man, worauf man sich einlässt, und klettert rauf und wieder runter. Hier sieht alles nach einem netten Spaziergang aus, und trotzdem bin ich am Ende des Tages kaum einen Schritt auf ebener Fläche gelaufen.

Natürlich ist es trotzdem wunderschön! Saftig grüne Wiesen unter interessantem Frühlingshimmel, dazu kleine Dörfer verstreut auf die Anhöhen und sanften Täler. Ein Tag wie aus dem Reiseführer. 

Der Wald, in dem ich schlafe, ist ein wenig felsig, doch solange mir keiner davon direkt im Rücken liegt, habe ich nichts dagegen. Ihr seht, ich bin heute wieder etwas früher dran. Gebe mein bestes, um mich auf die Sommerzeit einzupendeln 😊