Tag 37: Heiliges Chaos

Als ich aufwache prasselt der Regen auf das Dach des vindskydds. Keine Überraschung, war ja angesagt. Ich richte mich im Schlafsack auf und schaue nach draußen: alles verschwommen. Na gut, vielleicht erstmal Brille auf. Doch die Sicht wird trotzdem nicht besser. Hoffnungslos Waschküche! Es gibt Tage, da sollte man sich einfach wieder hinlegen, weiterschlafen und ein Stündchen später nochmal neu starten. Im Alltag geht das natürlich meistens nicht, doch auf einer Wanderung ist es okay. Schließlich habe ich heute nichts anderes vor als weitere 25-30 km Wald zu durchqueren und die Bäume laufen mir ganz sicher nicht weg. Also, kein Stress! Ob ich mich nun beeile oder nicht, langsam bin ich sowieso.

Tatsächlich hört es nach ungefähr einer Stunde auf zu pladdern und nur noch ein leichtes Tröpfeln ist zu hören. Ich wage mich raus auf den Steg, wo ich gestern Abend den Blick über den See genossen habe. Heute sieht die Welt nicht ganz so farbenfroh aus, aber auch schön. Nur ist es ein wenig nass-kalt, so dass ich zum Frühstücken nochmal zurück in den Schlafsack schlüpfe.

Ich kaue vor mich hin und schaue in die Wolken hinaus. Das Käsebrot in meiner Hand wird allmählich kleiner und ist schließlich verschwunden. 100g weniger auf meinem Rücken! Da hab ich doch tatsächlich schon was Nützliches geschafft und das, obwohl ich heute noch keinen Schritt vorwärtsgekommen bin. Trotzdem will ich jetzt endlich mal losgehen, trübes Wetter hin oder her. Denn ich bin gespannt auf die heutige Etappe.

Mich erwartet ein großes, aus mehreren Naturreservaten bestehendes, felsiges Buchenwaldgebiet, die Åkulla bokskogar. 

Wenn ihr die Gegend lieber im Sommer mit Blättern erleben mögt, kein Problem: stellt euch das, was da am Boden so golden leuchtet, einfach grün und weiter oben vor.

Die Åkulla bokskogar stehen zu einem großen Teil unter besonderem Schutz und werden forstwirtschaftlich nicht genutzt.

Was das bedeutet, merkt man beim Hindurchspazieren ziemlich schnell. So ein naturbelassener Wald sieht völlig anders aus als ein Nutzwald.

Auf den ersten Blick wirkt alles sehr unordentlich. Hier müsste mal jemand gründlich aufräumen, denkt man zunächst, dann wäre es viel schöner. Doch bei näherem Hinsehen merkt man, dass das nicht stimmt. Dieser Wald ist nicht nur schön, er ist perfekt, und zwar gerade weil hier niemand aufräumt.

Es darf einfach alles auf den Boden fallen, umstürzen, liegenbleiben oder sich umarmen so wie es gerade kommt. Genau deshalb kann dieser Wald von einer so großen Artenvielfalt bewohnt werden. Jeder Stein ist dick bemoost, an den morschen Stämmen kleben Pilze, unzählige Mikroorganismen wandeln Totholz wieder zu Erde um und die Luft riecht auf seltsame Weise frisch und modrig zugleich.

Man gewinnt unwillkürlich den Eindruck, dass das Wunder des Lebens aus dem Chaos entsteht oder vielleicht ist das gar kein Chaos, vielleicht ist die Ordnung darin nur zu komplex für die menschliche Wahrnehmung.

Immer wieder geht mir ein Satz von Einstein durch den Kopf: "Schau ganz tief in die Natur, und dann verstehst du alles besser."

Tatsächlich laufe ich heute ein bisschen verträumt durch die Gegend. Immer wieder bleibe ich irgendwo stehen oder sitzen und denke nach oder staune vor mich hin.

Und nebenbei sind da noch zwei lustige kleine Versorgungseinrichtungen am Weg, die mich ablenken. Mitten im Wald ein Sitzplatz mit Getränken...

...und vor einem Wohnhaus ein Schrank mit Proviant. Beides zur Selbstbedienung mit Bezahlung auf Vertrauensbasis.

Tatsächlich kann ich es mir erlauben, so gemütlich zu wandern, denn den ganzen Tag über fällt widererwarten kein Tropfen mehr vom Himmel. Erst abends, kaum fünf Minuten nachdem ich mein Zelt aufgebaut habe, fängt es wieder an zu schütten. Schnell schlüpfe ich hinein und ziehe den Reißverschluss zu. Gut getimed! Morgens und Abends, wenn ich sowieso im Trockenen sitze, darf es gerne regnen.