Tag 46: Seetag

Mit dem Schlafsack habe ich mich heute Nacht tatsächlich nur ein bisschen zugedeckt und bin gar nicht richtig reingekrochen. Wahnsinn, wenn ich daran denke, wie ich mir noch vor ein paar Wochen das Ding im wahrsten Sinne des Wortes bis über beide Ohren ziehen musste.

Den dichten Wald, in dem ich übernachtet habe, durchdringen die Strahlen der Morgensonne zwar nur teilweise...

....doch kaum bin ich auf einem breiteren Weg angelangt, ist wieder Kurze-Hosen-Wetter angesagt. 

Gleich morgens komme ich an mehreren wunderschönen Seen vorbei. 

Mein Vorsatz, mal ein bisschen schneller zu sein, ist sofort vergessen. 

An einem solchen Anblick kann ich nicht zielstrebig vorbeilaufen, sondern muss einfach anhalten und eine Weile aufs Wasser gucken. 

Ich vergesse dann alles um mich herum und es kommt mir vor, als würde ich Bilder und Erinnerungen aufsaugen, die mir helfen werden, mit mehr innerer Ruhe und Gelassenheit durchs Leben zu gehen, auch und vor allem nach dieser Tour. 

Das Sitzen am Ufer ist also gut investierte Zeit, obwohl es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, als würde ich dabei keinen Schritt weiterkommen.

Natürlich muss ich zwischendurch immer mal wieder auch rein äußerlich Strecke machen und ein paar Kilometer zurücklegen, wenigstens bis zum nächsten See.

Doch auch eine Reihe kurzer Waldspaziergänge von See zu See summiert sich irgendwann zu einer Tagesetappe. 

Manchmal ist die Gegend ziemlich hügelig, fast bergig.

Zusätzlich zur Aussicht auf schöne Seen genieße ich also immer wieder einen weiten Blick in die Landschaft, auf bewaldete Hänge und kleine Ortschaften in den Tälern. 

Bei einem Land wie Schweden, dessen Oberfläche zu 9% aus Gewässern besteht, ist die Chance, dass dabei irgendwo etwas blau glitzernd aufleuchtet, recht hoch.  

Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass mal kein See in Sicht ist, gibt es ganz sicher einen Sumpf. Nasswerden geht in Schweden also immer, wie ich auch heute wieder leidvoll feststellen muss.

Gegen Nachmittag bilden sich ein paar kleine Wölckchen am Himmel, dehnen sich langsam aus und schieben sich als dünner Schleier vor die Sonne, so dass diese etwas verhaltener scheint und sich eine milde Kühle ausbreitet. 

Für morgen Vormittag ist mal wieder Regen angesagt, doch nach den warmen Tagen finde ich diese Vorstellung eigentlich ganz erfrischend. Außerdem kann das Wasser in den Seen ja nicht immer nur glitzern, es muss schließlich auch irgendwie hineingelangen. Trotzdem freue ich mich, dass ich zum Übernachten eine Hütte finde. Auf diese Weise droht morgen kein so nasses Einpacken wie befürchtet.

Zudem ist es eine ganz besondere Hütte, hinter der eine wunderschöne Idee steckt: Archäologischen Funden zufolge war diese Waldlichtung Jahrtausende lang bis etwa 1500 von Menschen bewohnt, die hier teilweise ihr Vieh weideten, teilweise Ackerbau betrieben. Nachdem man rekonstruiert hatte, wie die Hütten, in denen man damals lebte, ungefähr ausgesehen haben könnten, baute man eine solche Hütte nach als Unterkunft für Wanderer - die einzige Spezies Mensch, die heute noch an diesem mittlerweile völlig verlassenen Ort vorbeikommt.

Rund um die Hütte wurden sogar Apfel- und Birnbäume gepflanzt. In der Hoffnung, dass diese irgendwann soweit gediehen seim werden, dass zumindest wer zur Erntezeit hier vorbeikommt, nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern sogar etwas zu Essen vorfindet.

Noch sind die Bäumchen allerdings recht klein, es könnte also noch etwas dauern. Aber macht nichts, ich habe ja meine Tütensuppe. Nach dem Essen richte ich mich häuslich ein. Fast wie vor tausend Jahren, oder? Naja, meine moderne Ausrüstung trübt das Zeitreise-Idyll vielleicht ein wenig, doch wenn ihr an der Tüte Gummibärchen geflissentlich vorbeiguckt, ist der Blick aus dem Fenster bestimmt noch genau wie damals. 

Mann, hatten die das bequem! So komfortabel hab ich lange nicht übernachtet: Vier feste Wände, eine Tür zum zumachen und die Decke so hoch, dass man aufrecht stehen kann. Wobei letzteres für einen Schlafplatz eigentlich gar nicht so relevant ist. Ich jedenfalls schlafe im Liegen und gehe davon aus, dass das die meisten anderen Menschen, damals wie heute, genauso machen.