Tag 78: Lass das Schaf raus!

Der Countdown läuft. Noch 27 Tage bis zum 20. Juni, dem längsten Tag des Jahres. Das traditionelle schwedische Midsommar-Fest mit Tanz um die Midsommarstång (so ähnlich wie bei uns ein Maibaum) findet allerdings nicht immer genau an diesem Tag statt, sondern am Samstag zwischen dem 20. und 26. Juni, dieses Jahr also am 24. Gefeiert wird aber eigentlich das ganze Wochenende. Midsommar ist in Schweden mindestens genauso wichtig wie Weihnachten. Läden und Restaurants haben geschlossen. Dienstleistungen und Infrastruktur funktionieren nur auf Sparflamme. Das ganze Land ist im Feiertagsmodus.

Den gestern angekündigten Sonnenaufgang hab ich natürlich verpennt. Als Ersatz kann ich euch eine halbhohe Sonne mit glitzernder Ostsee anbieten.

Die heutige Etappe beginnt ausnahmsweise mal nicht mit Loslaufen, sondern mit Sitzen. Ich muss nämlich erstmal auf die Fähre warten. Schade eigentlich, dass der kleine Campingplatz-Kiosk noch zu hat. So ein Softeis hätte ich ohne Probleme als zweites Frühstück verdrücken können.

Aber egal. So viel Kalorien brauche ich heute ja gar nicht, denn die ersten 330 Meter lasse ich mich fahren.

Zurück auf dem Festland sieht es so viel anders gar nicht aus. Die Ostsee bleibt allgegenwärtig, indem sie sich hinter jeder Wegbiegung, am Rand der Äcker und beim Klettern über die Weidezäune als blauschillerndes Band immer wieder irgendwie ins Bild schiebt.

Auf den Felsplateaus im Kiefernwald sieht man sie von Ferne aus der Vogelperspektive...

...dann wieder steht man direkt am Strand.

Ich könnte genauso gut immer noch auf einer Insel sein. Rund um Stockholm drängt das Meer weit ins Land hinein, wodurch sich unzählige Fjorde, Halbinseln, Inseln und Schären gebildet haben. Hinzu kommen noch diverse große und kleine Seen. 

Die Wasserlage ist also ziemlich unübersichtlich, jedoch wunderschön.

Im Zweifel muss man einfach probieren, ob es süß oder salzig schmeckt. Wobei ich heute das Glück habe, meinen Wasserbedarf vollständig aus den leckeren, kühlen Quellen decken zu können, von denen gleich mehrere am Weg liegen.

Man kann auch kurz vor Stockholm noch ziemlich gut durch tiefen Wald stapfen...

...Kobolden begegnen...

...sich über Blumen und Schmetterlinge freuen...

...und das Leuchten der weißen Birkenstämme im Somnenlicht bewundern. 

Zwar ist ab und zu in der Ferne schon die eine oder andere Straße zu hören und manchmal mischt sich ganz leise das untergründige Brummen einer großen Stadt zwischen den Vogelgesang. Doch noch ist von Stockholm nicht viel zu sehen. 

Es gibt Wiesen und Felder, rote Häuschen...

...den Farn, der sich im Vergleich zu neulich inzwischen komplett entrolllt hat...

...und natürlich gibt es jede Menge Felsen.

Bernoscha hat sich während seines gestrigen Pausentages mehr als gut erholt und läuft regelrecht zur Hochform auf. Bevor morgen die Zivilisation beginnt, lässt er heute nochmal so richtig das Schaf raus und wird dabei beinah zur Bergziege. Kein Aufstig zu kräftezehrend...

...kein Gipfel zu schwindelerregend...

...kein Abstieg zu steil.

Trittsicher meistert Bernoscha jede Unebenheit. Ich komme kaum hinterher.

Entsprechend müde falle ich abends ins Zelt.

Aber Bernoscha hat ja völlig Recht. Die nächsten fünf Tage werden sehr städtisch. Morgen bis in die Vororte, Freitag bis in die City, Samstag und Sonntag Sightseeing und Montag wieder raus. Um so wichtiger ist es, die Natur und das Herumkraxeln in den Felsen zu genießen, so lange es geht, und sozusagen auf Vorrat nochmal so richtig das Schaf rauszulassen.