Tag 81: Ai Weiwei, Astrid Lindgren, viele Könige und ein erschreckter Osterhase

Heute mal Mittsommer-Countdown über Stockholm und dem Segelschiff, das direkt vor der Tür des Hostels liegt. Besonders weit musste ich also nicht in die Nacht hineinlaufen.

Den Tag beginne ich mit einem umfangreichen Frühstück. Mal was anderes als immer nur Instantkaffee und ein paar Müsliriegel.

Hinterher laufe ich in einen wunderschönen Morgen hinein.

Sofort wieder mit Blick aufs Wasser. Die Ostsee ist in Stockholm einfach allgegenwärtig.

Vorm Nationalmuseum glitzert eine Skulptur von Ai Weiwei in der Morgensonne. Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, was sie mir sagen will, aber sie fällt auf jeden Fall auf.

Gestern bin ich von südlich der Altstadt gekommen. Heute vormittag erkunde ich die Gegend nördlich davon. Zunächst schlage ich den Weg in die königlichen Parkanlagen ein. Im Hintergrund seht ihr die königliche Oper und die St. Jacobskirche.

Hier und über ganz Stockholm verteilt tummeln sich diverse Könige (teilweise mit Pferd) und dazwischen (etwas rätselhaft) ein ziemlich erschreckt dreinblickender Osterhase.

Jenseits des Parks laufe ich durch ein vergleichsweise moderneres Viertel.

Ein ziemlicher Kontrast zu den verwinkelten Gassen mit den bunten Fassaden der alten Kaufmannshäuser in der Gamla Stan, die ich euch gestern gezeigt habe. Doch falls euch Hochhäuser nicht so gut gefallen, keine Sorge, nachher gehe ich nochmal in die Altstadt.

Doch erstmal gehe ich aus Spaß und zur Abwechslung mal in einen Systembolaget. So heißen in Schweden die Läden, in denen man Alkohol erwerben kann. In normalen Supermärkten darf nur Leichtbier bis maximal 3,5% verkauft werden. Dafür ist die Auswahl im Systembolaget um so beeindruckender. Nicht nur in Stockholm, sondern auch in kleineren Städten gibt es hier zum Beispiel Bier aus wirklich aller Welt.

Sogar Südafrika ist dabei. Es gibt schwedische Biere mit Elch-Motiv oder fotogener Möwen-Dose und deutsche Biere, die ich selbst in Deutschland noch nie gesehen habe. Fast wie ein kleines Biermuseum. In diesem Sinne kaufe ich auch nichts, sondern gucke nur. 

Hinterher spaziere ich weiter in das Viertel rund um den Vasapark, wo Astrid Lindgren gelebt hat. Hierher laufe ich immer, wenn ich in Stockholm bin. Das ist sozusagen ein Muss. Doch heute passiert etwas ganz Besonderes.

Dalagatan 46, das Haus mit der roten Markise. Dort hat Astrid Lindgren von 1942 bis zu ihrem Tod im Jahr 2002 gewohnt. Die Wohnung samt Einrichtung wird durch eine Stiftung erhalten. Um ein offizielles Museum handelt es sich jedoch nicht. Besichtigungen finden nur zu ausgewählten Terminen statt (bisher leider nie, wenn ich gerade in Stockholm war) und sind aktuell wegen Renovierungsarbeiten gar nicht möglich.

Sonst war die Tür, wenn ich vor dem Haus stand, immer zu. Heute steht sie offen.

Ich zögere kurz. Dann denke ich mir: Das ist die Gelegenheit! Und schon bin ich drin.

Na gut, die Umzugskisten trüben die Atmosphäre ein bisschen, aber da sie vermutlich der Grund für diese einmalige Chance sind, nehme ich sie gern in Kauf.

Ich kann es kaum glauben, ich laufe durch Astrid Lindgrens Treppenhaus. Sechzig Jahre lang ist sie täglich diese Stufen gegangen und ich habe das unfassbare Glück, dass auch ich sie betreten darf und dass sie damit sozusagen ein Teil meiner Wanderung quer durch Schweden werden.

Tatsächlich schaffe ich's, ohne dass mich auch nur jemand bemerken geschweige denn rausschmeißen würde, bis in den ersten Stock vor Astrid Lindgrens Wohnungstür. Und da stehe ich dann, ziemlich überwältigt, und mir kommen die Tränen.

Falls euch Astrid Lindgren nicht so viel bedeutet, dann kommt euch das vermutlich sehr albern vor. Weshalb sollte man angesichts einer völlig banalen Wohnungstür, die noch nicht einmal besonders schön aussieht, plötzlich losheulen? Doch für mich ist das eine ganz besondere Tür. Die Tür nämlich, hinter der all jene Geschichten entstanden sind, die ich schon als Kind wieder und wieder lesen wollte und die ihren Zauber für mich bis heute nicht verloren haben. Ich lese sie immer noch, inzwischen auch auf Schwedisch. Sie bringen mich zum Lachen und zum Nachdenken und machen mir Mut. Sie sind wie ein Ort, an den ich flüchten kann, wenn mir die Wirklichkeit zu viel wird, wenn es mir schlecht geht oder ich einfach nur meine Ruhe haben will. Ich bin Astrid Lindgren für alles, was sie geschrieben hat, unendlich dankbar und deshalb sitze ich jetzt hier in einem nach ihr benannten Teil des Vasaparks direkt gegenüber der Dalagatan 46 und weine still und leise vor mich hin.

Dabei muss ich an das Märchen von den Zwergenkindern Peter und Petra denken, die hier im Vasapark wohnen, und an Gunnar, der sich mit ihnen anfreundet und unendlich traurig ist, als sie eines Tages plötzlich wieder verschwunden sind. 

Irgendwann reiße ich mich zusammen und gehe weiter in den Tegnerlunden, einen kleinen Park auf einem bewaldeten Hügel mitten zwischen den Häusern. 

Ich bin immer noch auf Astrid Lindgrens Spuren unterwegs, denn auf dieser Bank im Tegnerlunden sitzt der einsame, traurige Weisenjunge Mio an einem Herbstabend und blickt sehnsüchtig in die erleuchteten Fenster ringsum, wo überall Kinder mit ihren Eltern zu Abend essen. Hier entdeckt Mio die weggeworfene Flasche mit dem Flaschengeist, den er befreit und der ihn weit weg ins Land der Ferne zu seinem Vater bringt.

So, jetzt aber Themenwechsel, bevor ich alle diejenigen von euch vergrault habe, die vielleicht keine ganz so großen Astrid-Lindgren-Fans sind. Vom ruhigen Tegnerlunden wandere ich hinüber zur nur wenige hundert Meter entfernten, belebten Drottninggatan.

Die Drottninggatan (Königinnenstraße) ist die Einkaufsstraße Nummer eins in Stockholm.

Wie der Name nicht anders vermuten lässt, endet sie direkt am Schloss mit dem großen Obelisken, den Gustav III. im Jahre 1800 errichten ließ als Dank an die Bürger Stockholms für ihre Unterstützung und ihr Durchhalten im Schwedisch-Russischen Krieg.

Was das Schloss betrifft, müsst ihr euch leider mit der Außenansicht begnügen. Für eine Besichtigung von innen interessieren mich Königshäuser einfach nicht genug.

Dafür hier nochmal von ganz von weit weg, damit der riesige Klotz auch mal komplett drauf passt.

Bernoscha hätte eigentlich gern eine Audienz beim König gehabt, um mal über die Lage von Schafen im Allgemeinen und Besonderen zu sprechen, ist angesichts der Ausmaße des Gebäudes dann allerdings doch zu schüchtern.

Stattdessen schlendern wir, wie vorhin versprochen, noch einmal durch die Gamla Stan...

...mit der hochauftragenden Tyska kyrkan, mit 96 Metern übrigens das höchste Gebäude der gesamten Altstadt.

Ich beschließe den Tag mit einem Besuch im Nobel-Museum. Es ist nicht sehr groß, doch man kann sehr gut aufbereitet alles über den Nobelpreis und die wegweisenden Entdeckungen, Bücher und Leistungen diverser Preisträger erfahren. Außerdem gibt es interessante Ausstellungsstücke. Brille, Stift und Schriftrolle des Dalai Lama zum Beispiel...

...oder den Koffer von Nelly Sachs, der alles enthielt, was sie mitnehmen konnte, als sie vor den Nazis nach Schweden floh...

...oder Marie Curies Vorrichtung zur Bestimmung von Atomgewichten...

...oder ein Armband von Kofi Annan...

...und noch viel mehr. Außerdem haben viele dieser Leute sehr kluge Dinge gesagt, über die man gut mal eine Weile nachdenken kann, zum Beispiel beim Wandern 😉 Manches habe ich mir deshalb abfotografiert.

Und schließen möchte ich für heute mit jener Äußerung, die mir in meiner gegenwärtigen Situation natürlich am besten gefällt:

Morgen geht's weiter mit Stockholm. Schritttempo garantiert 😊