Tag 107: Lapporten

Den Weg, den ich heute laufen will, hatte ich gestern vom Berg Njullá aus bereits komplett vor mir liegen.

Sieht eigentlich gar nicht so weit aus, aber man darf Entfernungen im Fjäll nicht unterschätzen und vor allem nicht vergessen, was es bedeutet, ohne markierten Pfad vorwärtszukommen.

Das Wetter ist phantastisch! Blauer Himmel über dem Törneträsk. Bis rauf in das u-förmige Tal Lapporten sind es in Zahlen 15 km. Eine gute Entfernung für den Einstieg.

Trotzdem fällt es mir gar nicht so leicht, das bisschen Zivilisation namens Abisko hinter mir zu lassen. Nach meiner langen Pause in Gesellschaft habe ich das Alleinsein ein wenig verlernt und muss mich erst wieder daran gewöhnen.

Immerhin ist das erste Stück des Weges noch markiert und läuft sich gut. An einer kleinen Brücke über einen Bach halte ich an, um zu trinken.

In der Ferne tutet ein Güterzug vorbei. Abisko liegt an der Bahnstrecke von Stockholm nach Narvik, die noch eine ganze Weile zu hören ist. Jeden Abend gibt es eine Verbindung nach Stockholm. Warum nicht einfach umkehren, einsteigen, am Fenster sitzen und die Landschaft vorbei ziehen lassen mit einem guten Buch und einem Kaffee in der Hand... und übermorgen wieder in Berlin bei Martin sein? Ich trinke einen Schluck Wasser. Schmeckt ohne Zweifel besser als jeder Kaffee, zumindest jetzt in diesem Augenblick. Und das sage ich, der ich eigentlich kaffeesüchtig bin.

Meine Laune wird schlagartig besser und ich sehe mich um. Was für ein Panorama! Auf mich warten drei Monate Fjäll, das lass ich mir doch nicht entgehen!

Fest entschlossen stapfe ich weiter. Abisko gerät rasch außer Hörweite. Mit jedem Schritt wird mein Heimweh kleiner und Lapporten größer.

Heute will ich erstmal nur da rauf, nichts weiter. Also sollte ich vielleicht auch einfach an nichts weiter denken als immer nur an den nächsten Schritt.

Ich stelle mir vor, wie es wohl aussehen mag da oben in dem u-förmigen Tal und meine Neugier treibt mich vorwärts. Das ist es, was ich so mag am Wandern in den Bergen: Ständig ändert sich die Perspektive und hinter jedem Berg und jedem Pass wartet eine neue Welt.

Zwischendurch mache ich Pause und schaue hinab auf die alte Welt von heute morgen.

Die Berge spiegeln sich im Törneträsk wie in einem riesigen blauen Diamanten.

Ein wunderschöner Anblick, doch zurück will ich auf keinen Fall. Ich bin dem Heimweh davon gelaufen.

Während ich so sitze und mich ganz und gar verliere im Staunen über den leuchtenden Farbenreichtum der Landschaft...

...kommt plötzlich ein anderer Wanderer den Hang hinauf. Er bleibt stehen und wir freuen uns gemeinsam über das herrliche Panorama. Dann stellen wir fest, dass wir den gleichen Weg haben. Auch er will oben im Lapporten zelten, morgen allerdings schon wieder zurück ins Tal wandern.  

Leonardo kommt aus Venezuela, wohnt seit einiger Zeit in Abisko und arbeitet dort im Supermarkt. Praktisch für mich, den jetzt hab ich jemanden, der den unmarkierten Weg schon ein paar Mal gegangen ist und weiß, an welchen Stellen man die vielen kleinen Bäche, die sich uns in den Weg legen, am besten überqueren kann, ohne nasse Füße zu bekommen. Außerdem kann ich euch dank Leonardo auch mal was anderes als ein Selfie bieten.

Im Lapporten angelangt, beschließen wir unsere Zelte nebeneinander aufzuschlagen. Da wir uns gut verstehen, spricht nichts dagegen zusammen zu Abend zu essen.

Der Blick aus dem Küchenfenster ist übrigens grandios!

An diesem See entlang werde ich morgen weiter in Richtung Süden laufen und erkunden, welche Welt jenseits vom Lapporten auf mich wartet.