Tag 112: Drachenrücken

Beim Zusammenpacken sichte ich meine Vorräte.

Was ihr da seht ist meine Tagesration für heute. Sieht vielleicht viel aus, aber bei all der körperlichen Anstrengung komme ich damit nur geradeso eben über die Runden. Mit sieben solcher Rationen bin ich am Montag in Abisko losgegangen. Heute ist Samstag. Mein Rucksack ist also schon merklich leichter geworden und in drei Tagen muss ich die nächste Fjällstation erreichen, um Nachschub zu kaufen. Doch das sollte klappen.

Die Sicht ist zwar nicht perfekt heute, doch es regnet nicht, der Weg ins Tal ist zu erkennen und abgesehen von einigen akrobatischen Einlagen zur Vermeidung nasser Füße auch gut zu gehen.

Unten stoße ich auf den Kungsleden, dem ich für ein paar Kilometer folge, um dann wieder in ein Seitental abzuzweigen.

Der Kungsleden ist eine perfekt markierte Wanderautobahn und auch ohne Wegweiser wäre der Pfad ausgetreten genug, um ihn nicht zu verfehlen. Es ist deutlich weniger einsam und vielleicht nicht ganz so abenteuerlich wie in anderen Teilen des schwedischen Fjälls. Doch auch hier erscheint die Zivilisation weit weg. Es gibt kein Handynetz, keine Autos oder Straßen und bis auf einige Übernachtungshütten auch keine Häuser. 

Für alle die zum ersten Mal im Fjäll sind, ist der Kungsleden perfekt. Man kann sich nicht verlaufen und fühlt sich sicherer, weil einem ab und zu andere Wanderer begegnen. Außerdem bekommt man keine nassen Füße 😊

Die Landschaft ist genauso schön und sehenswert wie überall sonst im schwedischen Gebirge. Sie ist einfach nur ein klein wenig zugänglicher gemacht worden, um risikofreieres Wandern zu ermöglichen.

Trotzdem biege ich nach einigen Kilometern wieder ab. Nicht weil ich's unbedingt gefährlich haben will, sondern weil ich den Kungsleden schon gut kenne und Lust auf was Neues habe.

Der Weg durchs Guobirvaggi mit Passüberschreitung und Abstieg nach Tarfala ist eine ziemliche Herausforderung und ich werde bis morgen früh dafür brauchen. Aber genau das hab ich mir ja gestern Abend vorgenommen: einmal Wandern unter der Mitternachtssonne. Dafür ist heute meine letzte Chance, denn ab morgen geht die Sonne wieder unter, wenn auch zunächst nur kurz. Der Himmel ist klar und nach dem verhältnismäßig entspannenden Stück Kungsleden fühle ich mich noch ausreichend fit. Gute Bedingungen also.

Während der ersten paar Kilometer läuft man auf den Berg Drakryggen, auf deutsch Drachenrücken, zu. Aus dieser Perspektive sieht er eher wie ein Dreieck oder eine Pyramide aus. Erst wenn man daran vorbeigeht, erkennt man wie langgestreckt er tatsächlich ist. Neben dem Drachenrücken liegt der Kebnekaise, mit 2096 Metern Schwedens höchster Berg. Oft liegt sein Gipfel in den Wolken, doch heute taucht er daraus hervor.    

Auf der anderen Seite des Kebnekaise befindet sich die Fjällstation, mein Ziel für übermorgen. Luftlinie eigentlich nicht mehr weit, doch über den Berg hinweg führt logischerweise kein Weg. Daher muss ich ihn östlich umrunden, was noch ein bisschen dauern wird.

Ich auf das Talende zu in die helle Sommernacht hinein. Ganz langsam. Erstens habe ich alle Zeit der Welt, zweitens sollte man es auf solchen Wegen auf keinen Fall eilig haben.

Wasser, Schnee und...

...Felsen. Die üblichen Hindernisse also. Nur mit Weidengestrüpp habe ich diesmal keine Probleme und auch die Mücken wagen sich nicht so hoch hinauf.

Im selben Maße wie das Talende näher kommt, rückt die tiefergelegene, grüne Landschaft rund um den Kungsleden in immer weitere Ferne.

Mit jedem Schritt wird der Blick zurück ein bisschen schwarz-weißer... 

...und die Gegend immer unwirtlicher.

Ich laufe an einem See entlang, auf dessen spiegelglatter, klirrend kalter Oberfläche sich die eisigen Berghänge spiegeln.

Noch wächst ein wenig Moos zwischen den Steinen, doch irgendwann ist auch das verschwunden.

Ich fühle mich ein bisschen wie auf einem fremden Planeten, auf dem es außer mir kein Leben gibt. Seit Jahrmillionen stehen diese Berge ganz genauso da - frostig, stolz und unnahbar - und ich bin ihnen völlig gleichgültig. Nur ein Würmchen, das mühsam zwischen den Steinen hindurchkrabbelt. Was mit mir geschieht, ist in dieser Welt vollkommen egal. Plötzlich fühle ich mich sehr klein und bedeutungslos. Das macht zum einen Angst, zum anderen ist es beruhigend. Klingt widersprüchlich, aber man kann das gleichzeitig empfinden. Zur einen Hälfte bin ich erschrocken, zur anderen merkwürdig gelassen. Zwischen diesen beiden Extremen schwanke ich, während ich hier entlang kraxele. In dieser Situation bin ich nicht viel größer als Bernoscha 🐑🤣

Die Mitternachtssonne steht hinter den Bergen und ist daher nicht zu sehen, nur ein orangener Schimmer fällt auf die Gipfel zu beiden Seiten des Passes. Auch dieses Licht wirkt irgendwie künstlich, unirdisch, lebensfeindlich und ohne jede Wärme. Es regt sich kein Lüftchen, nichts bewegt sich in dieser steinernen Welt, es ist unfassbar still. Wunderschön und unheimlich zugleich, eine abweisend und doch auf unbegreifliche Weise anziehende Atmosphäre, so dass ich immer wieder stehenbleibe und in ehrfürchtiges Staunen versinke.

Als die Mitternachtssonne den gesamten gezackten Drachenrücken erleuchtet, der aus dieser Perspektive seinen Namen tatsächlich verdient, ist es ziemlich genau null Uhr, und deshalb lasse ich euch jetzt stehen mit einem kleinen Cliffhanger: Meinen Weg über den Pass, den ich in der zweiten Nachthälfte zurückgelegt habe, poste ich erst morgen.