Tag 130: Danke, liebe gute Fee

Das Nur-Abwarten bezüglich des Unwetters war dann doch schwerer oder zumindest langwieriger als gedacht. Es schüttet und stürmt die ganze Nacht und den halben Tag. Erst gegen Mittag wage ich den Versuch, das Zelt zu verlassen. Zwar regnet es immer noch, aber weniger stark, der Wind hat nachgelassen und mit sehr viel Optimismus sieht es am Himmel über dem Tarraätno ein kleines bisschen heller aus.

Der Fluss ist mir über Nacht gut einen Meter näher gekommen. Jedenfalls ist das Wiesenstück, auf dem ich gestern stand, um mein Nudelwasser zu holen, knietief überschwemmt.

Der Wind hat ordentlich Blätter von den Birken gerissen und ich bin froh, dass keine schweren Äste auf mein Zelt gefallen sind.

Da ich morgen die Fjällstation in Kvikkjokk erreichen will, habe ich gar nicht mehr so viel Proviant dabei. Trotzdem ist der Rucksack ziemlich schwer, denn mein ganzer Krempel ist vollgesogen wie ein Schwamm. Mit Sonne wäre alles leichter! Das trifft hier nicht nur mental, sondern auch ganz nüchtern physikalisch betrachtet absolut zu.

Käme jetzt eine gute Fee vorbei und ich hätte drei Wünsche frei, wäre ein bisschen Wärme, damit die Flüssigkeit in meinen Klamotten endlich verdunsten kann, auf jeden Fall auf Platz eins. Platz zwei wäre ein gut sortierter Supermarkt, denn aufgrund des ziemlich begrenzten Lebensmittelangebotes der Hütten und Fjällstationen basiert meine Ernährung seit einigen Tagen sehr wesentlich auf diesen komischen Vanille-Himbeer-Keksen. Und sie werden aufgeweicht nicht besser!

Ich hoffe, in Kvikkjokk gibt's irgendwelche Alternativen, denn ansonsten überschreite ich die zulässige Höchstdosis und es besteht akute Gefahr, dass ich mich in ein Marmeladenklecks-Gebäck verwandle. Wunsch Nummer drei auf meiner Liste wären Wege statt Flüsse, denn tatsächlich sind die Pfade nach dem Unwetter derart überschwemmt, dass die Unterscheidung nicht immer leicht fällt.

Auf den ersten Kilometern sieht die Welt haargenau so aus wie gestern: Sumpf, Birkenwald und sumpfiger Birkenwald unter tiefhängenden Wolken. Doch dann ereignen sich gravierende Veränderungen:

Vielleicht gab es doch eine gute Fee und ich habe sie nur nicht gesehen. Schon beim bloßen Anblick eines kleinen blauen Fetzens am Himmel fühle ich mich um mehrere Deziliter erleichtert. So schnell ist die Physik natürlich nicht, doch gibt es bei Wanderrucksäcken eben nicht nur ein exakt messbares Gewicht, sondern auch ein gefühltes.

Zwar sieht die Welt immer noch nicht sommerlich aus, doch die Wege wirken gleich ein bisschen trockener. Und noch eine Veränderung tritt ein: Zwischen die Birken mischen sich immer mehr hoch aufragende Nadelbäume.

Das sind Fichten, die mich in dieser spitzen, schlanken Wuchsform immer sehr an Alaska erinnern. Nicht dass ich dort jemals gewesen wäre, aber ich habe natürlich Jack London gelesen. Tatsächlich ist diese Art von Wald für arktische Regionen weltweit typisch, vorausgesetzt man befindet sich tief genug und kraxelt nicht irgendwo jenseits der Baumgrenze zwischen den Felsen herum. Ein bisschen Alaska- oder Kanada-Feeling gibt es also auch in Europa. 

Dass die Fichten des hohen Nordens so streichholzartig aussehen, liegt ganz einfach daran, dass es hier im Winter unfassbar viel schneit. Hätten die Bäume genauso ausladende Äste wie ihre mitteleuropäischen Verwandten, dann würde sich darauf in den kalten Monaten eine derart große Schneelast ablagern, dass sie einfach zusammenbrechen müssten. 

Während des gesamten Weges strömt und sumpft es kräftig weiter...

Selbst tief im Birkenwald...

...höre ich immer von irgendwo her das Tosen eines Flusses.

Doch auch an ganz stillen Gewässern komme ich vorbei, in denen sich ganz wundervoll der vielversprechend aufgelockerte Himmel spiegelt. 

Kvikkjokk liegt in einer weit verzweigten Delta-Landschaft, wo sich mehrere Flüsse (unter anderem der Tarraätno) treffen und teilweise zu Seen weiten. Dazwischen liegen undurchdringliche Wald- und Sumpfgebiete. Das letzte Stück bis zur Fjällstation kann man daher nur mit dem Boot zurücklegen. Im Sommer gibt es einen regelmäßigen Transfer. Gegen 19 Uhr erreiche ich den Anleger. Gerade will ich mein Zelt aufschlagen, weil planmäßig erst morgen früh wieder ein Boot kommt, da höre ich es in der Ferne tuckern. Das Geräusch wird rasch lauter und tatsächlich taucht kurz darauf ein Motorboot auf, das eine Gruppe Wanderer zum Padjelantaleden bringt. Wo die herkommen, weiß ich schon, bevor ich sie reden höre, denn zwei der Männer haben Globetrotter-Plastiktüten auf ihre Rücksäcke geschnallt, ein untrügliches Zeichen 😆 Ich kann also sogar mal wieder ein bisschen deutsch sprechen und hinterher mit der Fährfrau, die so nett ist, mich außer der Reihe mit zurück zu nehmen, schwedisch. Gestern hab ich Franzosen getroffen und mich vorhin länger mit einem Finnen auf englisch unterhalten. Manchmal ist Wandern auch ein bisschen Sprachkurs.

Vom Wasser aus sieht die Welt ganz anders aus. Und was das Beste daran ist: Aufgrund des Fahrtwindes gibt es hier keine Mücken!!!

So gelange ich also ganz unerwartet heute schon nach Kvikkjokk in die Zivilisation. Naja, es gibt hier im Wesentlichen eine Fjällstation. Das heißt Essen, warme Dusche, Strom, Handyempfang. Aber mehr wollte ich auch gar nicht.

Neben der Fjällstation kann man zelten.

Der Platz sieht erstmal unspektakulär aus, doch direkt hinter den Bäumen befindet sich eine sehr spektakuläre, gewaltige Stromschnelle. 

Ruhig ist es also nicht gerade. Doch finde ich das Geräusch von fallendem Wasser selbst dann, wenn es ohrenbetäubend laut ist, immer noch irgendwie angenehm. Ich werde hier also gut schlafen. Aber vorher zeichne ich euch noch ein paar Karten, damit ihr mal wieder wisst, wo ich inzwischen eigentlich bin. Sorry, ist ein bisschen handgestrickt. Dadurch, dass ich die Route geändert habe, muss ich etwas improvisieren. 

Der blaue Kringel ist Kvikkjokk, der rote ganz im Norden Abisko, wo ich gestartet bin, und der pinke im Süden ist unser Sommerhäuschen in Dalarna, wo ich hin will. Ich habe also noch einiges vor. Die gelbe Linie sind die 140 km auf dem Padjelantaleden, die ich während der letzten sechs Tage seit Ritsem zurückgelegt habe. Hier nochmal rangezoomt und auf einen Blick im Schnelldurchlauf: 

Von Nord nach Süd rot markiert sind Ritsem, der Berg Akka, der See Virihaure, die Mondlandschaft Tuottar, das Tarradalen und Kvikkjokk. So, jetzt wisst ihr's ganz genau 🤔 Morgen geht's weiter auf dem Kungsleden in Richtung Süden, improvisierte Karte folgt 😉