Tag 133: Polarkreis

Im Gegensatz zu gestern werde ich mir wohl heute wieder ganz gut vorstellen können, wie es ist tropfnass zu sein. Als ich morgens aus dem Zelt gucke, regnet es zwar noch nicht, aber man muss kein Wetterfrosch sein, um zu prognostizieren, dass sich das sehr bald ändern wird. 

Ich beeile mich und schaffe es, noch im Trockenen zusammenzupacken. Doch kaum bin ich unterwegs fallen die ersten Tropfen. Rasch wird daraus ein kräftiger Regen, die bemoosten Felsen werden immer glitschiger und das Wandern kostet mich einige Mühe.

Während es der Himmel gestern scheinbar darauf angelegt hatte, die Landschaft unendlich weit erscheinen zu lassen und es mir so vorkam, als könnte ich bis zum Horizont jedes Detail genau erkennen, so ist heute das glatte Gegenteil der Fall. Mehr und mehr verschwimmt alles zu einer nebligen Suppe. Die Welt wirkt wie ausgewechselt.

Zum Glück lasse ich die ganz dicken Felsbrocken bald hinter mir und gelange auf eine Hochebene, wo ich dank eines kräftigen Rückenwindes ziemlich schnell vorankomme.

Doch es bleibt ungemütlich. Ich ziehe mir Mütze und Kapuze immer tiefer ins Gesicht und schließlich wühle ich sogar die Handschuhe aus dem Rucksack. Die Rentiere hingegen scheint das Wetter nicht besonders zu stören. Auf jeden Fall laufen mir heute Vormittag eine ganze Menge über den Weg.

Nach ein paar Stunden macht der Regen eine kurze Pause und es wird ein wenig heller.

Ich setze mich auf einen der Felsen und stopfe mir bibbernd ein paar Kekse in den Mund. Dabei überlege ich, welche Sorte aufgeweicht besser schmeckt: Himbeerklecks von neulich oder die aktuellen Schokocookies. Doch der nächste Schauer unterbricht meine Gedanken und ich gelange zu keinem abschließenden Urteil.

Der Wind pustet mich weiter den Hang hinab in Richtung Polarkreis, denn den werde ich heute überqueren. Er verläuft irgendwo da unten bei den vielen Seen mitten durch den Birkenwald. Es dauernd nicht lange, bis die ersten Bäume auftauchen. Jetzt könnt ihr auch ein bisschen besser erkennen, wie stürmisch es tatsächlich ist.

Tiefer im Wald wird es zum Glück ein wenig ruhiger. Das Hinweisschild Polarkreis ist so mickrig und improvisiert, dass ich es um ein Haar übersehe. "Polcirkeln" steht auf dem kleinen Holzbrettchen, das da an der Birke hängt.

Knapp 600 km durch Nordschweden liegen hinter mir (gelb) und noch etwa 1500 km vor mir (blau).

Südlich des Polarkreises sieht die Welt natürlich gleich ganz anders aus. Viel sommerlicher, um nicht zu sagen mediterran 🤣

Naja, nicht ganz, aber fast. Auf jeden Fall muss ich jetzt durch all den Wald und Sumpf und an all den Seen vorbei, die ich vorhin von oben gesehen habe.

Solche Felsbrocken, wie ihr sie durch das klare Wasser hindurch erkennen könnt, liegen auch überall auf den Wegen herum und es gibt jede Menge Matsch überbrückt durch oft schon ziemlich kaputte Stege.

An den meisten Stellen ist das egal, doch an einigen hoffe ich wirklich sehr inständig, dass die wackligen Konstruktionen nicht unter mir zusammenbrechen beziehungsweise ich nicht ausgerechnet hier auf den glitschigen Planken ausrutsche.

Die Hängebücken über die wirklich breiten Flüsse sind zum Glück von etwas besserer Qualität...

...und zumindest vertrauenerweckend genug als dass ich mich traue, in der Mitte stehen zu bleiben und ein paar Fotos von den wild strudelnden, brüllend lauten Fluten zu machen.

Dennoch ist dieser Teil des Kungsleden etwas völlig anderes als das perfekt ausgebaute nördliche Ende, auf dem ich in der Nähe des Kebnekaise ein Stück gelaufen bin. Hier trifft man kaum andere Wanderer, es gibt keine Hütten und alles wirkt viel einsamer, unorganisierter und weniger kommerziell. So zum Beispiel auch der Bootstransfer über den See Riebnes von dem winzigen Dorf Vuotnaviken aus.

Zwei Wanderer mit Hund warten hier schon seit heute morgen auf die Überfahrt. Wenn noch ein Dritter käme, dann ginge es los, habe man ihnen gesagt. Und tatsächlich: Ich klopfe an einer der Hütten, wo Licht brennt, ein älterer Mann - Typ Seebär - öffnet die Tür, mustert mich kurz, nickt, wirft sich eine gelbe Öljacke über und geht runter zum Anleger. Wir folgen ihm und steigen in ein relativ geräumiges Motorboot, sogar mit kleiner Kabine. Der Mann brummelt etwas von 100 Kronen in seinen langen Bart, dann dröhnt der Motor los und wir fahren in wirklich rasantem Tempo quer über den See.

Am gottverlassenen anderen Ufer, wo es keinen Anleger gibt, verlassen wir das Boot etwas abenteuerlich über eine Leiter am Bug, von der aus man einen ziemlichen Satz machen muss, um wirklich auf dem Kiesstrand und nicht im Wasser zu landen. Die beiden mit dem Hund schlagen gleich hier ihr Nachtlager auf. Ich laufe noch ein Stück den Berg hoch, schaue mir den Riebnes von oben an...

...und wandere weiter durch die Nebelsuppe in Richtung Süden. Mit Blick ins nächste Tal baue ich schließlich mein Zelt auf. 

Der Wind rüttelt ordentlich am Gestänge und Regen prasselt auf die Plane. Doch mit trockenen Klamotten, einem heißen Kaffee und einer Tafel Schokolade stört mich das kein bisschen. Es fühlt sich sogar gemütlich an.