Tag 134: Letztes Level vorm Supermarkt

Ich packe meinen tropfnassen Krempel zusammen und freue mich, dass ein paar Mal fast die Sonne rauskommt. Es ist windig und am Himmel herrscht Bewegung. Das kann heute noch was werden, in die eine wie die andere Richtung. Doch ich gehe einfach mal davon aus, dass ich irgendwie ein bisschen trockne. So eine Wanderung ist immer auch ein kleiner Crashkurs in Sachen Optimismus.

Südlich des Polarkreises ist der Kungsleden gleich viel grüner und die Luft fühlt sich wärmer an - wie gesagt mit etwas Optimismus.

Und manch ein waldiger Tunnel ist sogar so auffällig, dass er selbst einem pessimistischen Blick nicht verborgen bleiben dürfte.

Auf den Sümpfen gibt es hier und da ein sommerliches Glitzern...

... hier und da eher nicht, aber das versuche ich zu ignorieren.

Während der ersten paar Kilometer wirkt die Welt sehr ruhig und irgendwie in sich gekehrt. Tiefer im Wald ist der Wind kaum zu spüren und ich wandere zwischen stillen, klaren Seen und bunten Blumen vor mich hin, ebenfalls ein bisschen in mich gekehrt.

Doch mit einem Mal werde ich unsanft aus meinen Tagträumen geweckt. Plötzlich stehe ich am Ufer eines sehr großen Sees, der gar nicht still ist. Der Wind pfeift über die graue Wasseroberfläche, die Wellen klatschen wild ans Ufer und ausgerechnet hier soll ich rudern.

Dass es auf dem Wanderweg diese Ruderstrecke gibt, hab ich natürlich gewusst. Erstens ist es auf der Karte eingezeichnet und zweitens bin ich hier vor sieben Jahren schon mal langgelaufen. Doch damals war der See bei herrlichem Sommerwetter knallblau und spiegelglatt wie ein Gartenteich. Dass er heute so völlig anders aussehen würde, damit hatte ich in optimistischer Verblendung einfach nicht gerechnet. Manchmal erinnert so eine Wanderung ein bisschen an ein Computerspiel: Immer noch ein neues Level, und einige davon haben es ganz schön in sich.

Ein zusätzliches Problem dieses Ruder-Levels ist, dass auf meiner Seite nur ein Boot liegt, was bedeutet, dass ich die Strecke nicht einmal, sondern dreimal rudern muss. Einmal hin, dann mit einem Boot von drüben, wo zwei liegen dürften, im Schlepptau zurück und wieder rüber. Das ist das Prinzip dieser auf schwedischen Wanderwegen nicht unüblichen Ruderstrecken, wo immer genau drei Boote zur Verfügung stehen. Natürlich hofft jeder, dass auf seiner Seite zwei Boote liegen. Doch dieses Glück habe ich heute nicht und egal wie optimistisch ich meine Lage zu betrachten versuche, aus einem Boot werden leider nicht zwei. Ich überlege, ob ich einfach ein bisschen warten soll. Vielleicht kommt ja ein anderer Wanderer, so dass ich wenigstens nicht ganz allein dreimal rudern muss. Andererseits wer soll da kommen? Die mit dem Hund sind ein ganzes Stück hinter mir, sonst habe ich niemanden gesehen. Und zu lange warten kann ich nicht mit einer Hand voll Erdnüsse und einer halben Tafel Schokolade. Ich muss heute noch zum Supermarkt nach Jäckvik. Eigentlich kein Problem, denn drüben vom anderen Ufer aus sind es nur noch fünf Kilometer. Wenn bloß dieser See nicht wäre. Neben dem Anleger steht eine Kiste mit Schwimmwesten. Ich streife mir eine über, nehme allen Mut zusammen und steige in das Boot. Zu Schulzeiten war ich mal in der Ruder-AG. Doch das ist erstes 25 Jahre her und zweitens hab ich, da ich schon damals immer der kleinste und leichteste war, meistens an der Steuerpinne gesessen, was mir in meiner aktuellen Situation gar nichts nützt. Ich lege mich mit voller Kraft in die Riemen und es gelingt mir, mich vom Ufer zu entfernen. Weiter draußen ist der Wellengang noch stärker und der See kommt mir noch größer vor. Es kostet mich 15 Minuten enormer Kraftanstrengung, das Boot gegen den kräftigen Seitenwind in der Spur zu halten, und als ich endlich den Anleger am anderen Ufer erreiche bin ich ziemlich (angst-)schweißgebadet. Nie im Leben schaffe ich es da rüber mit einem Boot im Schlepptau. Aber irgendwie muss ich, denn wenn jetzt drüben ein Wanderer kommt, dann kann er nicht weiter. Ich suche mir ein windgeschütztes Plätzchen, denke nach und gelange zu dem Schluss, dass es das Beste ist, wenn ich mir erstmal einen Kaffee koche und die halbe Tafel Schokolade esse. Kaffee und Schokolade helfen gegen fast alles, denke ich eigentlich eher verzweifelt scherzhaft. Doch es scheint zu stimmen, denn kaum habe ich aufgegessen, da raschelt es zwischen den Bäumen und ein anderer Wanderer taucht auf. Wow, damit ist mein Problem gelöst, denn der muss ja jetzt sowieso rüber rudern und dann gibt es drüben wieder ein Boot. Der Typ guckt skeptisch auf die Wellen und fragt mich, ob's schwierig war. Ich nicke. Er zögert kurz, dann zieht er sich eine Schwimmweste über und wirft seinen Rucksack in das Boot. Ich stoße ihn vom Ufer ab und gucke noch kurz dem schwankenden Kahn hinterher. Wie eine Nusschale. So muss das bei mir wohl auch ausgesehen haben und mir wird glatt noch im Nachhinein ein bisschen schlecht. Doch dann reiße ich mich zusammen, mache noch schnell ein lässiges "Ich hab's geschafft, war gar kein Problem" - Selfie mit Schwimmweste...

...und verschwinde schleunigst wieder im Wald.

Von der guten Fee wünsche ich mir bis Jäckvik nur noch Wege an ruhigen Seen entlang...

...und werde erhört.

Jäckvik ist mit Kaff kurz vorm Polarkreis ziemlich gut und ausreichend beschrieben.

Den Supermarkt haben die nur wegen der Norweger, hatte mir Helena, die Fährfrau in Kvikkjokk, bereits erklärt. Und tatsächlich ist der ganze Parkplatz voller norwegischer Kennzeichen. Manche Leute laden gleich ein ganzes Wohnmobil mit Essen voll. Norweger kaufen gerne in Schweden ein, weil es deutlich billiger ist. Daher gibt es längs der Grenze auf schwedischer Seite diverse Mini-Orte mit absurd großen Supermärkten.

Ich für meinen Teil bin sehr glücklich, mal wieder etwas mehr Auswahl zu haben als in einer Fjällstation. Für mich ist das hier der erste Supermarkt seit Abisko, das heißt seit einem Monat und ungefähr 600 Kilometern auf und ab durch die Berge.

Am dringendsten brauche ich Obst! Was Frisches hat mir echt gefehlt. Kaum hab ich bezahlt, inhaliere ich vor dem Laden erstmal zwei Äpfel, zwei Bananen und "einige" Käsebrote. Wandern macht hungrig und Rudern auch. Anschließend geht's mit neuer Energie raus aus Jäckvik.

Die übliche Reihenfolge ohne böse Überraschungen: erst Birkenwald und dann wieder jenseits der Baumgrenze, wo ich an einem ähnlich windzerzausten Plätzchen wie gestern mein Nachtlager aufschlage. Doch gucke ich heute nicht mehr von Norden, sondern von Süden in das Tal mit den Seen rund um Jäckvik hinunter.

Ich lausche dem Prasseln der Regentropfen - optimistisch gespannt, welches herausfordernde Level mich morgen erwartet. Doch schon bald wird mir klar: Nee, nicht morgen, heute noch. Der Wind wird immer stärker, mein Zelt wird zusammengedrückt wie eine Streichholzschachtel, ich merke, dass Blitze zucken, doch den Donner höre ich nicht, dafür ist der Sturm viel zu laut. Das Wasser peitscht von allen Seiten gegen die Plane und die Stangen biegen sich durch fast bis zum Boden, so dass ich nur noch zusammengekrümmt neben meinem Rucksack liegen kann. Was mach ich jetzt? Kaffee kochen und Schokolade essen schaffe ich nicht in dieser Position. Aber ich schaffe es, meinen Krempel in den Rucksack zu stopfen. Jetzt muss ich schleunigst da raus und es irgendwie hinkriegen, das Zelt abzubauen, sonst geht es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kaputt. Der Rucksack muss natürlich erstmal drin bleiben, denn sonst fliegt mein kleines rotes Häuschen davon und zwar im wahrsten Sinne des Wortes über alle Berge. Zum Glück hab ich vorhin auf der Karte gesehen, dass es nicht weit von hier eine Rasthütte gibt. Dahin, das ist mein Plan. Es gelingt mir die Stangen rauszuziehen und damit ist auch schon da Schwierigste geschafft. Ich knülle die Plane irgendwie zusammen stopfe alles in den Rucksack und renne los. Naja, so gut man rennen kann auf Wegen, die Flüsse geworden sind. Nass bis auf die Knochen erreiche ich die Hütte und überraschenderweise ist schon jemand da. Walter aus Belgien wartet hier bereits seit gestern auf besseres Wetter. Der Ofen läuft, die Hütte ist warm und locker geräumig genug für zwei. Ich kann sogar mein Zelt trocknen. Draußen tobt das Wetter noch eine Weile weiter, so dass wir kurzzeitig sogar fürchten, die Hütte könnte uns unterm Hintern wegfliegen, doch nach ungefähr einer Stunde wird es endlich ruhiger.

Spätabends gehe ich nochmal raus, um ein Foto von meinem neuen Schlafplatz zu machen. Der Himmel ist jetzt wieder erstaunlich klar. Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Es spricht einiges dafür, dass heute nicht mehr viel passiert. Wird auch Zeit.