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Tag 185: Verweile doch, du bist so schön

Als ich morgens den ersten Blick aus dem Fenster riskiere, strahlt mir nicht gerade das perfekte Wanderwetter entgegen.

Der Bus, der da steht, fährt übrigens nach Mora.  Das ist die Kleinstadt, in deren Nähe unser Sommerhäuschen liegt. Ich müsste bloß einsteigen und drei Stunden später wäre ich nur noch knapp 30 Kilometer von meinem Ziel entfernt. So träume ich ein bisschen im warmen, weichen Bett vor mich hin. Doch dann gebe ich mir einen Ruck und stehe auf. Nein, Busfahren würde zwar viel schneller gehen, wäre aber trotzdem um Einiges langweiliger. Ich gehe jetzt erstmal frühstücken, dann laufe ich los. Ich habe zwei Beine, die auch bei Nebel funktionieren, und es gibt keinen vernunftigen Grund, ein anderes Verkehrsmittel zu wählen.

Da Grövelsjön keinen Supermarkt hat und mich von der nächsten Einkaufsmöglichkeit in Flötningen noch knapp 50 Kilometer trennen, habe ich gestern nicht bloß Frühstück, sondern auch ein Lunchpaket gebucht. Ich packe die Papiertüte, die man dafür bekommt, so voll wie es irgend geht. Außerdem haue ich natürlich auf Vorrat mächtig rein.

Satt und trocken verlasse ich die südlichste Fjällstation Schwedens, die auch heute nicht sehr südlich aussieht.

Erkennt ihr das unbekannte Detail an meinem Rucksack? Die blaue Flasche, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte und auch nicht mehr ganz dicht war, musste einer neuen, grünen mit schickem Grövelsjön-Logo weichen.

Obwohl es schon kurz nach zehn ist, macht der Nebel keinerlei Anstalten, sich zu verziehen.

Eine klamme Kälte liegt in der Luft, aber es regnet nicht, zumindest noch nicht.

Ich habe mir fest vorgenommen, den paradiesischen Zustand des Satt- und Trockenseins zu genießen so lange ich kann und kein Nebel auf der Welt wird mich daran hindern.

Im Übrigen hat so ein weißer Schleier ja auch Vorteile. Sieht irgendwie verwunschen aus. Wahrscheinlich wäre diese Straße, wenn ich sie besser erkennen könnte, viel weniger schön.

Gegen Mittag zweige ich ab auf einen Pfad durch Wald...

...und Sumpf.

Tatsächlich lichtet sich der Nebel und die Fichten wirken wieder mehr wie Bäume statt wie riesige Fabelwesen, die sich auf meinen Weg hinunterneigen.

Am frühen Nachmittag ereignen sich auf einer Waldlichtung mit ein paar hübschen, alten Häusern die fünf bis zehn Sonnensekunden des Tages. 

Wenn ihr genau hinseht, erkennt ihr am Himmel einen winzigen blauen Schnipsel. Kurz darauf allerdings beginnt es zu regnen. Zuerst versuche ich es mit Ignorieren, doch dass mehr und mehr Tropfen auf meine Jacke fallen, lässt sich nicht sehr lange leugnen. 

Keine Frage, die trockenen Augenblicke sind vorbei. Verweile doch, du bist so schön, denke ich sehnsüchtig und erinnere mich an den gestrigen Nachmittag in meinem warmen Zimmerchen in der Fjällstation. Aber niemand bleibt forever dry. So ist das nun mal. Und auch niemand bleibt forever satt. Mein Magen jedenfalls fängt allmählich wieder zu knurren an. Das Frühstück ist entschieden zu lange her. Zum Glück habe ich heute ein gutes Schutzhütten-Timing.

Hier drinnen ist es trocken und der Brownie aus Grövelsjön hilft nicht nur gegen den Hunger, sondern ist auch noch richtig lecker. Und eigentlich ist es auch gar kein Brownie, sondern ein Kladdkaka. Das ist ein schwedischer Schokuchen, der so ähnlich schmeckt nur besser 🇸🇪😊

Wenn die schönen Augenblicke schon nicht verweilen wollen, dann muss man sich eben neue suchen. Ich glaube, die Welt ist voll von schönen Augenblicken, die nur darauf warten, dass jemand sie findet. Zwar verlasse ich den Rastschutz nicht ganz so satt und trocken wie heute morgen die Fjällstation, aber auch nicht völlig hungrig und nass. 

Der Tag bleibt ungemütlich mit dem einen oder anderen Schauer. Doch kommt auch noch die eine oder andere Schutzhütte und mein Timing bleibt perfekt.

Abends beim Wasserholen...

...habe ich das Gefühl, dass der Himmel über dem Fluss etwas heller wird.

Kann aber auch Einbildung sein. Sicher ist jedoch: Als ich hinterher ins Zelt schlüpfe, bin ich längst nicht so durchgeweicht, wie es das Wetter befürchten ließ.

Und nochmal gutes Timing. Kaum bin ich drin, tröpfelt es wieder, aber nur kurz. Als ich später im Dunkeln den Reißverschluss aufziehe, ist die Wolkendecke so dünn, dass der Mond kräftig hindurchschimmert.

Vielleicht schafft die Sonne das ja morgen auch.