Tag 188: Nachmittagsdämmerung

1. Oktober - mein achter Monat unterwegs. In zwei Wochen komme ich an.

Oktober - das klingt wirklich schon sehr nach Herbst. Trotzdem ist zumindest die erste Tageshälfte noch angenehm warm und hell.

Ich spiele weiter "Nicht den Sumpf berühren" und manchmal spiele ich auch "Nicht den Bach berühren". Denn die Brücken sind durch die starken Regenfälle der letzten Wochen oft genauso kaputt wie die Bretterstege über den Matsch.

Da hilft nur, am Bach entlangzugehen und so lange zu suchen, bis man eine Stelle findet, wo man von Stein zu Stein hüpfen kann.

Kurz nachdem ich dieses Hindernis gemeistert habe, begegnet mir der erste andere Wanderer seit Grövelsjön. So spät im Jahr sind nicht mehr viele Leute unterwegs und tatsächlich war ich die letzten vier Tage völlig allein auf dem Trail. Ich sehe ihn schon von weitem durch den Sumpf auf mich zu stapfen. Groß, drahtig, mit langem weißem Bart und, sehr typisch für die älteren schwedischen Bergwanderer, Gummistiefel und ein Rucksack mit Außengestänge. Wir kommen rasch ins Gespräch. Per ist 77, wandert seit 60 Jahren jeden Sommer im Fjäll, kennt es in und auswendig und will alles wissen über meine Tour von Abisko bis hier runter. Nachdem wir uns verabschiedet haben, stelle ich mir vor, wie er in seinen Gummistiefeln ganz lässig den Bach überqueren wird. Vermutlich um einiges geschickter als ich. Mit 77 noch in diesem Gelände wandern, das muss ihm erstmal jemand nachmachen. Hut ab!

Und wahrscheinlich sind Gummistiefel wirklich keine schlechte Idee. Man hat natürlich weniger Halt im Sprunggelenk, aber vermutlich kann man sich daran gewöhnen. Vielleicht probiere ich es, wenn ich das nächste mal neue Wanderschuhe fürs Fjäll brauche, einfach mal aus.

Zu dieser Jahreszeit steht die Sonne hier oben im Norden - ich bin immerhin noch auf 61 Grad - den ganzen Tag über schon recht tief. Höher als im nächsten Bild, das ich während der "Mittagshitze" aufgenommen habe, kommt sie nicht mehr...

...und bereits zwei bis drei Stunden, bevor sie tatsächlich untergeht, breitet sich eine Art Dämmerlicht aus. Kurz vorm Einsetzen dieser Nachmittagsdämmerung wandere ich durch Sumpfgras und vorbei an hohen Fichten immer höher hinauf bis aufs Drevfjäll. 

Zwar bin ich schon seit vorgestern im gleichnamigen Naturreservat unterwegs aber die eigentlichen Berge kommen erst jetzt. 

Und es kommt das, was ich mit Nachmittagsdämmerung meine. 

Ein schmaler Streifen gelben Lichts am Horizont, der ausreicht, um alles gut erkennen zu können, jedoch weder das Sumpfgras zum Leuchten noch die Pfützen zum Glitzern bringt.  

Manchmal gelingt es der Sonne noch, die Welt mit einem goldenen Schlimmer zu überziehen. Doch scheint sie dabei so verhalten, dass man problemlos hineingucken kann, ohne auch nur im geringsten geblendet zu werden. 

Nachdem sie schließlich untergegangen ist, glimmt die Welt ganz schwach ein wenig nach...

...dann werden die Wolken und ihr Spiegelbild blass und fahl wie in einem Schwarz-Weiß-Film.

Spätestens jetzt sollte man unbedingt einen Platz zum Schlafen gefunden haben, denn kurz darauf wird es stockfinster.