Tag 195: Eiskunstlauf

Heute Nacht muss es wohl nochmal eine Stufe kälter gewesen sein.

Jedenfalls kann ich morgens meinen Wasserbeutel nicht mehr ausschütten, sondern nur noch auszuschütteln, so lange bis sich mein kompletter Trinkwasservorrat in kleinen Bröckchen neben mir im Moos verteilt hat.

Zum Glück ist der Bach ein paar hundert Meter unterhalb von meinem Schlafplatz noch nicht gefroren und ich kann rasch für flüssigen Ersatz sorgen.

Die vielen Birkenblätter, die der Herbst ins Wasser geweht hat, leuchten goldbraun im Sonnenschein und sehen ein bisschen aus wie Münzen in einem Glücksbrunnen. Obwohl ich eigentlich schon rundum glücklich bin, werfe ich noch ein paar Blätter dazu. Kann ja nicht schaden. Trotz der Kälte ist herrliches Wetter und ich laufe unter blauem Himmel aus dem Wald wieder hinauf dem weiten Himmel entgegen.

Je höher ich komme, desto eisiger wird es. Das war kaum anders zu erwarten.

Mancherorts sind die Birkenblätter bereits festgefroren und das Spiegelbild der Bäume liegt still und starr auf einer hauchdünnen Eisschicht.

Im Laufe des Vormittags ziehen Wolken auf, wodurch die Landschaft noch etwas rauer und unwirtlicher erscheint.

Die Mittagssonne versteckt sich hinter einem milchigen Fenster, so dass die Welt ausgerechnet zur hellsten Zeit des Tages irgendwie düster wirkt.

Der Blick reicht dennoch unendlich weit.

Kleine Wölckchen stechen aus dem Grau hervor und stapeln sich bis zum Horizont, über dem ein schmaler, blaßblauer Streifen ruht.

Die Eisschicht auf den sehr kleinen Wasserflächen ist bereits so massiv, dass ich sie mit dem Wanderstock nicht mehr durchkriege. 

Die Wege sind spiegelglatt und der Boden ist überall steinhart.

Während ich so über die eisigen Flächen laufe... 

...stelle ich mehr und mehr fest, was für hübsche Muster das Eis in die Pfützen malt.

Bernoscha würdigt die Eiskunst, indem er die eine oder andere elegante Pirouette auf ihr dreht.

Mein Eiskunstlauf besteht darin, dass ich immer wieder stehenbleibe und fasziniert nach unten gucke. So als ginge ich durch ein Museum, wo die Bilder auf dem Boden liegen.

Es ist wirklich interessant, was da so für Gestalten herumlungern.

Und glaubt mir, wenn man einmal damit angefangen hat, in den Formen des splitternden Eises etwas zu erkennen, dann kann man so schnell nicht wieder damit aufhören.

Man sucht nach immer neuen Gestalten...

...und plötzlich wohnt in jeder Pfütze irgendein kleines Eismonster.

Eismonster suchen geht überall, nicht nur im Fjäll. Probiert es doch im Winter einfach mal aus. Macht wirklich Spaß.

Und zur Frage, ob das nicht albern ist, kann ich nur wieder meine Lieblingsautorin Astrid Lindgren zitieren, die als bereits betagtere Dame plötzlich noch einmal Lust hatte, auf einen Baum zu klettern und es auch tat. Und zwar mit den Worten: "Nirgendwo steht geschrieben, dass es alten Weibern verboten wäre, auf Bäume zu klettern." Ich denke, Eismonster suchen ist ebenfalls Menschen jeden Alters immer und überall erlaubt.

Und übrigens, keine Angst. Manche Wesen sehen zwar ein bisschen unheimlich aus...

...aber sie sind eigentlich wirklich alle sehr nett.

Zumindest haben sie mich heute sehr wirkungsvoll nicht nur vor Langeweile, sondern auch vor nassen Füßen bewahrt.

Denn sie sorgen dafür, dass der Boden bis in den tiefsten Sumpf hinein absolut fest ist.

Nirgendwo schmatzt es mehr unter meinen Sohlen. Höchstens knarrt es mal ein wenig, doch ich sinke kein bisschen ein.

Und offenbar wollen die Eismonster mich nicht nur vor nassen, sondern auch vor abgefrorenen Füßen schützen. Jedenfalls können sie mich überreden, heute in einer Hütte zu schlafen. Und das trotz meines "Ich will so lange zelten wie möglich"- Geschwätzes von gestern.

Die Östfjällstuga kenne ich schon von früheren Wanderungen. Sie liegt direkt an einem Bergsee, über dem, als ich ankomme, gerade wunderschön die Sonne untergeht.

Für eine Rasthütte ist es innen recht gemütlich.

Fensterplatz mit Seeblick, Pritsche sogar mit Matratze und natürlich ein Ofen, so dass mir zum ersten Mal am heutigen Tag zunächst ein bisschen und dann richtig ordentlich warm wird.

Mal sehen, vielleicht klappt Zelten in den nächsten Tagen nochmal unten im Wald. Ich denke, da werden noch nicht ganz so viele Eismonster herumlungern 🥶👻