Tag 49: Superwoman

Gestern kurz vor Mitternacht, ich will gerade das Zelt zuziehen, fällt mir eine Eidechse auf den Kopf. Kein Witz. Oops, denke ich mir, hat Minas Geist vielleicht was gegen meine Anwesenheit und lässt jetzt Eidechsen regnen. Doch es bleibt zum Glück bei dem einen Exemplar. Ich google noch ein bisschen und finde eine rationale Erklärung. Wechselwarme Tiere wie Reptilien überdauern den Winter in Kältestarre, fahren ihren Stoffwechsel komplett runter und tauen im Frühling sozusagen wieder auf. Wenn es nach einer warmen Periode überraschend nochmal kalt wird, und genau das ist ja gerade der Fall, dann kann es passieren, dass bereits aufgetaute Tiere erneut einfrieren. Falls sie dabei auf Bäumen sitzen, fallen sie einfach runter. Ich habe keine Ahnung von Eidechsen-Physiologie, aber Dr. Google sagt, man soll die Tiere einfach irgendwo ablegen und in Ruhe lassen. Alles klar, mach ich. 

Morgens sieht das arme Ding irgendwie immer noch eingefroren aus. Ich decke ein paar Blätter drüber und hoffe, dass es überlebt, obwohl heute eher nicht an erneutes Auftauen zu denken ist. Denn es ist wirklich empfindlich kalt. Selbst ich als gleichwarmes Wesen muss, um Reptilien-ähnlichen Erstarrungszuständen vorzubeugen, meine Pausen kurzhalten.

So rase ich die 20 km bis zum Supermarkt nach Ulricehamn ziemlich durch. Trotzdem brauche ich etwa vier Stunden. Es geht auf und ab und die Wege sind mal sumpfig, mal holprig und nicht immer leicht zu gehen.

Ich fange an, mich zu fragen, wie Mina sich in ihrer Hütte eigentlich versorgen konnte. Die letzten dreißig Jahre ihres Lebens hat sie dort ganz allein verbracht. Als alte Frau muss sie echt fit gewesen sein, denn Rollator-gängig sind diese Pfade beim besten Willen nicht.

Schon mir kommt der Weg nach Ulricehamn beschwerlich vor. Dabei bin ich ein paar Jahrzehnte jünger, habe Meindl-Schuhe, eine Haglöfs-Regenjacke, Carbon-Cork-Trekkingsstöcke und einen Gregory-Rucksack. Wird sie alles nicht gehabt haben. Aber wahrscheinlich musste sie auch gar nicht permanent zum Supermarkt, sondern hat die Sache irgendwie anders hingekriegt, aber wie? Lieferando oder Amazon gab's schließlich auch noch nicht. Außerdem hätten die ihr den Krempel auf solchen Wegen niemals bis vor die Haustür gebracht, auch nicht gegen Aufpreis.

Je mehr ich über Mina nachdenke, desto mehr kommt sie mir wie Superwoman vor. Wir können zwar heute Dinge, die Menschen vor hundert Jahren noch nicht konnten. Doch umgekehrt gilt das Gleiche. Fortschritt ist eben relativ.

Da ich nicht weiß, wie ich ohne Supermarkt klarkommen soll, bin ich froh, als Ulricehamn in Sicht kommt. Die Stadt ist sehr schön am riesengroßen See Åsunden gelegen. Eine Weile sitze ich am Ufer, doch bald schon treiben mich Kälte, Sprühregen und Hunger weiter in Richtung Proviant-Nachschub.

Ein riesengroßer Laden für einen am Ende ziemlich kleinen Einkauf.

Hier hätte ich Essen für hundert Tage kaufen können, aber ich brauche nur was für zwei. Dann kommt sowieso der nächste Supermarkt.

Von allem gibt es Unmengen und andauernd diese Angebote "zwei zum Preis von einem", "drei zum Preis von zwei", "vier zum Preis von drei" usw. Pech gehabt, wenn man nur eins tragen kann, dann gibt's eben keinen Rabatt.

Hinterher mache ich es mir auf einer Bank neben Regenrohr und Staubsauger-Werbung gemütlich und esse ein Stück schwedischen Frustkuchen.

Das hilft ein bisschen, doch noch besser geht's mir, als ich endlich wieder im Wald bin.

Eine kleine Pause - lang genug für das 7-Wochen-Selfie und kurz genug, um nicht festzufrieren.

Ansonsten laufe ich, um warm zu bleiben und dem Eidechsen-Schicksal zu entgehen, einfach immer weiter. 

Wenigstens würde ich im Falle plötzlich eintretender Kältestarre nirgendwo runterfallen, denn Wanderwege führen ja meistens unter und nicht auf den Bäumen entlang. 

Abends erreiche ich eine Lichtung mit einem alten Erdkeller, der bis Ende des 19. Jahrhunderts bewohnt gewesen sein soll, jedoch nicht dauerhaft, sondern immer nur zeitweise als eine Art Notunterkunft. 

Auch hier hilft mir die kurzgehaltene Wiese dabei, unkompliziert einen guten Platz für mein Zelt zu finden. Also nochmal: Danke, lieber Heimatverein Ulricehamn! Nur die Eidechse könnt ihr heute Nacht gerne weglassen.