Tag 70: Im Räuberwald

Obwohl der Himmel trüb ist springt mir gleich auf den ersten Metern schon wieder der Frühling entgegen, denn überall auf den Tannenspitzen sehe ich hellgrüne Blüten blitzen... und das darunter ist nicht etwa Schnee, sondern das weißliche Moos, das hier sehr häufig vorkommt.

Heute geht es, wie gestern schon angekündigt, tiefer in den Kolmården hinein. 

Erst noch auf Forstwegen, dann auf schmalen Pfaden. 

Den ganzen Tag über begegnet mir kein Mensch - keine Autos, keine Fußgänger, keine Häuser - nur Bäume...

...und einsame Seen.

Der Kolmården ist ein dicht bewaldeter Höhenzug längs der Grenze zwischen Östergötland und Sörmland. 

Wegen des felsig-zerklüfteten Untergrundes ist das Gebiet schwer zugänglich und für Ackerbau ungeeignet, was den Wald über viele Jahrhunderte hinweg und teilweise bis heute vor größeren Rodungen bewahrt hat. 

Selma Lagerlöf schreibt: "Andere Wälder mussten sich vor den Menschen fürchten, vor dem Kolmården fürchteten sich die Menschen." Dann erklärt sie, dass es früher kaum möglich gewesen sei, das Dickicht lebend zu durchqueren. Während rundherum längst Menschen lebten, gab es im Kolmården lange Zeit keine Dörfer oder Straßen, dafür jedoch umso mehr Räuberbanden und wilde Tiere.

Heute lässt sich der Kolmården auf der Autobahn Richtung Stockholm in wenigen Minuten überqueren. Auf den Wanderwegen hingegen kann man sich noch immer gut vorstellen, wie schwer und gefährlich es einst gewesen sein muss, ein so unübersichtliches Gelände zu durchreisen...

...und wie man ständig befürchten musste, hinter dem nächsten großen Felsblock könnte eine Räuberbande lauern.

Doch ich bin unbesorgt, denn Bernoscha prescht voran, erklimmt dynamisch jeden Aussichtspunkt, der sich ihm bietet, passt auf wie ein Schießschaf und würde, sobald er auch nur die geringste Gefahr wittert, unverzüglich zum Überraschungsangriff übergehen.

Ich habe also allen Grund, mich vollkommen sicher zu fühlen. Zumal ich zusätzlich auch noch das grüne Tarnnetz trage, das mich vor den größten Räubern im Wald bewahren soll, den kleinen Blutsaugern nämlich, vor denen mich leider auch Bernoscha nicht beschützen kann. 

Das 10-Wochen-unterwegs-Selfie zur Feier des Tages also mit Schleier. Aber keine Sorge, ich muss das Ding nicht den ganzen, sondern nur ungefähr den halben Tag tragen. Bei stärkerem Regen, der zum Glück in regelmäßigen Abständen schauerartig auftritt, gehen die Biester in den Pausenmodus.

Und dann hab ich sogar mal Gelegenheit, in Ruhe am See zu sitzen und ein paar stimmungsvolle Fotos zu machen... 

...ohne dass dabei die Venen auf meinen Handrücken angezapft werden.

Das klingt jetzt vielleicht sehr nach großer Zumutung, doch so empfinde ich es nicht. Wenn ich diese herrliche Landschaft wirklich und nicht nur flüchtig im Vorbeifahren erleben will, dann gehört das eben alles mit dazu. Und im Übrigen hält der Wald mal wieder ein Fünf-Sterne-Nachtlager für mich bereit, das für so manches entschädigt. 

Eine gigantische Badewanne ganz für mich allein direkt vor der Haustür, da muss ich natürlich trotz Mücken und Regen heute noch rein oder vielleicht auch gerade deswegen.

Denn wenn man erstmal untergetaucht ist, sind die Mücken machtlos und vor lauter Wasser merkt man auch den Regen nicht mehr.